Setum, der Junge des Mutes

Wie ging es nun weiter mit Setum? Das erzähle ich dir in dieser Geschichte:

Nach seiner Begegnung mit Rumanaat, dem Erddrachen, humpelt Setum, der sich im Wald den Fuß verknackst hat, ruhig nach Hause. Da ist keine Eile, denn zumindest im Moment fühlt er keine Angst.

‚Was hat Rumanaat noch gesagt? Ich soll atmen, mich ausdehnen und groß machen … und sogar den Wunsch zulassen, jemanden töten zu wollen. Na, das ist schon krass. Doch wenn ich es mir überlege… Beim Kampfsport lerne ich ja auch Tritte und Schläge, die den Gegner töten könnten. Doch beim Training gibt es höchstens mal blaue Flecke…

Ja. Das mach’ ich. Ich schau mal, welche Kampfkunstschulen es in meiner Nähe gibt, und dann…kann ich mich auch verteidigen!’

Vertieft in seine Gedanken kommt Setum zu Hause an. Dort wird er schon ungeduldig von seinem Vater erwartet.

„Na. Wo hast du dich schon wieder rumgetrieben! Du solltest vor einer halben Sunde zu Hause sein.“

„Ich habe mir den Fuß verstaucht und konnte nicht so schnell laufen.“

Überrascht beobachtet Setum, dass ihm diese Antwort ganz ruhig und ohne den gewohnten Stress aus dem Mund kommt. Er spürt keine Angst. Das ist ganz neu. Sogar sein Vater reagiert unerwartet anders. Statt der üblichen Ohrfeige schaut er ein wenig besorgt.

„Na. Setz’ dich mal auf den Stuhl. Ich schau mal, ob es nur eine Verstauchung ist. Wenn nicht, fahren wir gleich zum Arzt.“

Er tastet das Gelenk ab und bewegt den Fuß vorsichtig. Inzwischen ist die Schwellung unübersehbar.

„Und? Tut das weh? Und das?“

„Autsch! Ja das hat grade weh getan.“

„ Ach weißt du, nun bin ich selber unsicher. Lass uns doch zum Doc fahren. Er kann röntgen und es besser beurteilen.“

Auf dem Weg zum Arzt beobachtet Setum seinen Vater auf eine ganz neue Art. Bis jetzt hat immer die Angst mitgeschwungen, doch nun? Es ist ein ganz neues Gefühl für ihn, das er noch nicht wirklich kennt. Es fühlt sich jedenfalls gut an. Er faßt sich ein Herz.

„Papa, du siehst grade traurig aus. Ist es, weil du jetzt mit mir zum Arzt fahren musst?“

„Traurig? Nein, mein Junge. Ich bin nur etwas nachdenklich. Ich habe den Eindruck, dass du dich irgendwie verändert hast, doch kann ich es noch nicht genau sagen.“

Schweigend fahren sie weiter. Beim Doktor stellt sich heraus, dass eine Sehne am Fußgelenk angerissen ist. So bekommt Setum einen elastischen Verband und die Anweisung, seinen Fuß in den nächsten Tagen möglichst wenig zu belasten. Das bedeutet, zu Hause zu bleiben. Noch vor einem Tag hätte sich Setum davor gefürchtet, doch heute nimmt es diese Nachricht sehr gelassen auf.

‚Dann kann ich ja die ganzen Übungen üben, das Atmen, das Ausdehnen und so. Nur blöd, dass ich noch nicht in eine Kampfsportschule gehen kann.‘

„Herr Doktor, wann kann ich denn wieder mit Sport anfangen?“

„Mit einfachen Übungen frühestens in zwei Wochen. Bei euch Kindern heilt eine angerissene Sehne schneller als bei den Erwachsenen. So brauchst du nicht so lange warten. Doch bleibe achtsam. Die Stelle kann auch nach Monaten noch weh tun.“

Auf dem Rückweg beginnt der Vater das Gespräch:

„Sag’ mal, machst du irgendeinen Sport, von dem ich nichts weiß, oder meinst du den Schulsport?“

„Ach, ich habe mir überlegt, einen Kampfsport zu lernen. Das interessiert mich. Ich weiß nur noch nicht, welchen.“

„Das ist ja ’n Ding! Du und Kampfsport! Das ich nicht lache! Aber vielleicht tut dir das ja wirklich gut! Nur wehe, wenn du das dann gegen mich anwendest! Das werde ich mir nicht gefallen lassen!“

„Ich will mich wehren können gegen die Jungs aus dem Nachbardorf. Sie ärgern mich ständig.“

„Na, es wird ja auch mal Zeit, dass aus dir ein richtiger Junge wird, und dass du kein Schlappschwanz bleibst.“

Zuhause wird Setum weitestgehend in Ruhe gelassen. In seinem Zimmer setzt er sich auf sein Bett und macht die Ausdehnungsübung. Die hat ihm richtig gut gefallen.

Er stellt sich nun vor, wie er mit jedem Ausatmen sein Energiefeld weiter ausdehnt. Nach einer kurzen Weile hat er den Eindruck, dass er schon so groß ist wie sein Zimmer.

‚Ob ich mich noch größer machen kann? Im Wald war ich so groß wie der Drache.‘

Und auf einmal, er weiß gar nicht, wie es geschehen ist, sieht er sich über sein Zuhause fliegen. Und erliegt einfach weiter, so schön ist das!

„Sei willkommen.“ ertönt neben ihm eine vertraute Stimme.

„Rumanaat! Du bist ja auch hier! Wow, dann können wir ja zusammen fliegen!“

Gemeinsam fliegen sie zu einer größeren Waldlichtung und setzen sich gegenüber. 

„Na, wie ist es dir zuhause ergangen? Erzähle mir nur von deiner Wahrnehmung, was dich und deinen Vater angeht. Alles andere habe ich beobachtet.“

„Als ich nach Hause kam, hatte ich das erste Mal keine Angst. Das war echt krass! Und mein Vater war auch gleich ruhig und hat sich um meinen Fuß gekümmert. Und irgendwie konnte ich meinen Vater ganz anders betrachten. Er sah traurig aus und gar nicht mehr so furchteinflößend wie sonst immer.“

„Merke dir eines: Das, was du ausstrahlst, kommt zu dir zurück. Du bist immer in Wechselwirkung mit anderen Menschen. Wenn du Angst hast, spüren das die Anderen und beginnen, dich zu ärgern oder zu schlagen. Es ist so, als ob sagst: „Tu etwas, um mir zu zeigen, dass ich Angst habe. Verstehst du das?“

Setum nickt.

„Genauso ist es, wenn du Ruhe und Selbstsicherheit in dir spürst. Das strahlst du ebenfalls aus. Und so erklärt das auch die Reaktion deines Vaters. Das alles läuft unbewusst ab. Denn deine Ausstrahlung wird direkt empfangen ohne Umweg über das Denken, wie bei der Telepathie.“

„Das heißt, nur ich selbst kann es beeinflussen, wie Jemand mit mir umgeht?“

„Genau das heißt es. Und so sage ich dir noch etwas: Du selbst bist der Schöpfer deiner Realität.“

„Aber wenn ich als kleines Kind schon geschlagen werde… dafür kann ich doch nichts. Beim ersten Mal hatte ich bestimmt noch keine Angst, als es passierte, oder?“

„Mit der herkömmlichen Betrachtungsweise hast du recht. Um so etwas zu verstehen, braucht es eine kleine Erklärung.

Du kommst als Seele mit einem bestimmten Auftrag oder mit dem Wunsch nach einer speziellen Lernerfahrung auf die Erde. Das hast du schon gewählt, bevor du gezeugt wurdest. Dafür suchst du dir die passenden Eltern und das passende Umfeld. Wenn du im Körper inkarniert bist, hast du das wieder vergessen, sonst wäre der Überraschungseffekt ja weg. 

So hast du dir einen Vater ausgesucht, der als Kind selbst oft geschlagen wurde. Diese Erlebnisse haben ihn so geprägt,  dass er dies ganz automatisch selber macht, ohne darüber nachzudenken. Er wurde vom Opfer zum Täter und er handelt dabei unbewusst. 

In dir ist nun der Wunsch nach Veränderung so groß geworden, dass ich auf den Plan treten konnte als dein Begleiter und Lehrer.“

„Deshalb schlägt Papa mich? Weil er selbst geschlagen worden ist? Dann ging es ihm ja genauso wie mir jetzt.“

Zum ersten Mal spürt Setum Mitleid mit seinem Vater.

„Ja. Ich weiß, dass er eine schlimme Kindheit hatte. Und wenn er dich ängstlich oder unsicher sieht, ist er nur verzweifelt, weil er nicht will, dass du schwach bleibst. Und er hat nichts anderes gelernt als so zu reagieren, wie er es tut.“

„Also hat er im Auto doch traurig ausgesehen.“

„Ja. Er war traurig. Doch das kann er nicht zugeben. Er hat gelernt, nur Stärke zuzulassen, obwohl auch er noch Angst hat, Angst, Fehler zu machen. 

Angst ist eine Emotion, die sich eng anfühlt. Sie blockiert deine Kräfte und macht auf Dauer krank. Weißt du, welche Gefühl dich weit und leicht werden läßt?“

Setum überlegt eine Weile.

„Wenn ich die kleinen Vögel im Garten beobachte, dann fühle ich mich leicht. Sie sind so fröhlich am zwitschern. Das macht mir Freude. Ich habe sie irgendwie lieb.“

„Da bist du auf der richtigen Spur! Liebe, Dankbarkeit, Anerkennen, Freude… das alles sind Gefühle, die dich weit machen und dir gut tun. Wie wäre es, das öfters zu haben?

Lass uns eine kleine Übung machen.

Stelle dir eine Situation vor, in der du voller Liebe und Glück warst. Gehe ganz in diese Situation hinein. Was hast du gesehen? Was hast du gehört und gerochen? Was hast du körperlich gespürt. Lass all deine Sinne zu, bis du ganz erfüllt bist von Freude und Liebe.

Und nun lass deinen Vater in diesen Raum erscheinen. Er kommt als Erwachsener zusammen mit dem kleinen Jungen, der er mal war, an der Hand. Wenn du die beiden siehst, was möchtest du nun tun?“

„Oh, ich möchte den kleinen Jungen in den Arm geben, dass er wieder lachen kann.“

„Wie schön. Ja, dann mach das. Halte ihn und sprich mit ihm.“

Nach einer Weile erzählt Setum ganz berührt: 

„Wir halten uns an der Hand und rennen ganz fröhlich über die Wiese und lachen.“

„Nun beobachte deinen Vater. Was geschieht mit ihm, jetzt, wo der Junge in ihm so fröhlich ist?“

„Er schaut viel freundlicher. Und er seufzt grade erleichtert. Es sieht aus, als ob er etwas Schweres losgelassen hat.“

„Verabschiede dich nun von den Beiden und komme aus dem Bild langsam wieder zu mir zurück.

Und wieder hast du viel Mut bewiesen. Du hast es zugelassen, deinen Vater auch mit liebenden Augen zu sehen. Kannst du dir vorstellen, dass sich dein Vater verändert, dadurch, dass du dich gerade veränderst? Übe dich nun darin, in positiven Gefühlen zu bleiben und immer wieder dahin zurück zu kommen, wenn es dir mal nicht so gut geht. Du wirst die Veränderungen beobachten.

Gleichzeitig beginne auch mit dem Kampfsport. Ich empfehle dir da Wing tzun, denn es ist auch für körperlich schwächere Menschen sehr gut geeignet. Bleibe in der Klarheit, dass du dich nun nicht mehr verletzen lassen willst, und übe dich auch darin, dieses Bewusstsein aufrecht zu halten. Denn auch, wenn du einen Menschen lieb hast, hat er nicht die Berechtigung, dir Schmerzen zuzufügen.

Damit ist unsere Lehrstunde für heute beendet. Ich bin sehr stolz auf dich. 

Komm, klettere auf meinen Hals. Wir fliegen noch eine Runde zusammen!“

„Und wenn ich hinunter falle? Ich habe ein wenig Angst.“

„Hast du wirklich Angst, oder ist es nur Aufregung? Die wirkliche Freiheit beginnt auch da, das zu tun, wovor man Angst hat. Und nun? Auf geht’s!“

Rumanaat erhebt sich in die Lüfte. Von Setum fällt jede Angst weg und vor Freude breitet er sogar die Arme aus, um sich so frei zu fühlen, wie er es in seinem jungen Leben noch nie gekonnt hat. Das Rauschen des Windes, die Kraft und Größe seines neuen Drachenfreundes und die wieder gefundene Lebensfreude geben ihm das Selbstbewusstsein, sein Leben ab sofort selbst in die Hand zu nehmen.

„Ich BIN der Junge des Mutes! Yeah! Yippie! Danke!“

Huii! Und wie es Spaß macht! Rumanaat läßt sich nach oben gleiten, gleichmäßig und ruhig wie ein Adler, um sich dann, ganz plötzlich, herabstürzen zu lassen. Es ist wie eine große Achterbahnfahrt. Sogar Loopings sind eingebaut.
Für einen kurzen Moment fasst Setum um die Hornschuppe direkt vor ihm.

‚Und wenn ich doch herunter falle?‘ Ein wenig mulmig ist ihm doch.
„Genieße einfach diesen Flug. Du bist energetisch so mit mir verbunden, dass dieser Magnetismus und zusammenhält. Außerdem erlebst du gerade einen wunderschönen Traum.“
Nach einer Weile beruhigt Rumanaat seine Flugakrobatik.
„Nun habe ich noch eine Einladung an dich. Stelle dir vor, wie deine eigenen Flügel wachsen. Du darfst dich auch als Drachen sehen. Dann lösen wir uns voneinander und fliegen als Freunde nebeneinander. Wie wäre es?“
Es braucht nur einen kurzen Moment des Wählens, und Setum fliegt als kleinerer Drache neben Rumanaat her. Er kann es sich noch nicht vorstellen, so groß wie dieser zu sein, doch immerhin gelingt ihm schon dieser SchriR.
„Du lernst sehr schnell. Wenn du dann wieder zu Hause bist, wird es dir leicht fallen, in diese Energie und Größe zurück zu kommen. Bald wirst du nicht mehr gehänselt oder geschlagen. Du hast gewählt, in deine Kraft zu kommen. Gratuliere.“

© Angelika Schumann,2021